Die Deutsche Bahn hat ja bekanntermaßen unzählige Ansagen für Verspätungen auf Lager. Könnte ich einen Tag in der Zugverspätungszentrale der Bahn verbringen, dann würde ich ziemlich sicher die ganzen Knöpfe mit den Ansagen durchprobieren. Und ganz bestimmt auch den mit meiner Lieblingsansage drücken:
„Wegen verspäteter Übergabe aus dem Ausland hat Eurocity 174 eine Verspätung von 90 Minuten.“
Man könnte jetzt einwenden, dass an dieser Ansage nichts besonderes ist. Sie wird tagtäglich dutzende Male abgespielt und lindert doch kaum den Zorn der Reisenden. Aber schauen wir uns die scheinbar schnöde Ansage einmal genauer an.
Kernelement ist zweifelsohne die Übergabe. Trotz Europäischer Union und Schengenraum muss ein Zug an der Grenze ganz offenkundig an die Kollegen vom Nachbarland übergeben werden. Da tippeln also Schaffner bei Eiseskälte am Grenzübergang unruhig von einem Bein aufs andere, ballen ihre Fäuste in den Schaffnermanteltaschen und blicken ungeduldig den Schienenstrang entlang. Kommt er jetzt endlich?
So eine Zugübergabe ist eine gemeinhin unterschätzte und dabei doch hochkomplexe Angelegenheit. Was muss da nicht alles überprüft werden: Fährt der Zug überhaupt auf dem richtigen Gleis (blöd, wenn man es erst hinterher in Buxtehude merkt)? Sind noch alle Waggons da (gerne kommt ja der Speisewagen abhanden, aber das ist eine andere Ansage)? Wie steht es um die Laugenstangenvorräte des mobilen Bretzelverkäufers? Bis alles durchgezählt und penibel im Übergabeprotokoll vermerkt ist, kann schon eine kleine Weile vergehen. Und schon ist sie da: Die Verspätung aufgrund verspäteter Übergabe aus dem Ausland.
Von Dresden Hauptbahnhof bis Berlin-Südkreuz heißt es dann: „Wegen verspäteter Übergabe aus dem Ausland…“
Charmant ist in jedem Fall die Diffusität der Ansage: Sie sagt nichts über den eigentlichen Grund der Verspätung aus. Am Grenzübergang verquatscht? Bei den Laugenstangen dreimal verzählt? Ach iwo, das ist doch kein ansagetauglicher Verspätungsgrund!
Stattdessen wälzt die Bahn die Schuld ganz geschickt auf das nicht näher definierte „Ausland“ ab. Das ist einfach, denn das „Ausland“ gilt gemeinhin als ziemlich unberechenbares Land. Vom Ausland kann man weder präzise Pünktlichkeit noch pünktliche Präzision erwarten.
Ganz bewusst spricht die Bahn nicht von einer „verspäteten Übergabe aus dem Nachbarland“. Das klingt nämlich weder besonders weit weg, noch sonderlich unberechenbar.
Zugleich scheut die Bahn aber auch die direkte Konfrontation. „Der Tscheche ist schuld“, könnte der Schaffner ja auch ansagen. Das ist aber zum einen politisch nicht ganz korrekt und zum anderen weiß jeder Zugführer von Flensburg bis Garmisch-Partenkirchen, dass es die Kollegen im Ausland auch nicht anders machen. Kommt ein deutscher Zug zu spät nach Prag, dann ist auch dort „das Ausland“ schuld.
Was lernen wir daraus? Eine Zugübergabe ist komplexer als wir gedacht haben (aha!) und auf das Ausland ist im Falle einer Verspätung in jedem Fall Verlass (na immerhin!).