Wirrwarr am Bahn-Automaten


Achtung am Bahn-Automaten: Wenn man hier nicht aufpasst, hat man schnell einen kostenpflichtigen Sitzplatz reserviert.

Vor einiger Zeit wollte ich einen Flug bei Billigairline TUIfly buchen. Nach der Eingabe der üblichen Daten forderte das Formular mich auf, mir jetzt einen Sitzplatz im Flieger auszusuchen. An sich ein guter Service, dachte ich. Der Trick: Sobald man einen der Plätze auf dem Übersichtsplan des Flugzeuges anklickte, wurde automatisch eine Sitzplatzreservierung für 12 Euro hinzu gebucht. Unbedarften Reisenden wurde durch die vorangestellte Aufforderung suggeriert, dass sie andernfalls ohne einen Sitzplatz mitfliegen würden (was natürlich Quatsch ist). Der Trick mit dem Sitzplatz ist nur einer von vielen bei den Low-Cost-Airlines: Unnötige Versicherungen, Gepäckzuschläge oder Zusatzkosten für fast alle Zahlungsarten sind an der Tagesordnung.

Neuerdings bedient sich jetzt offenbar die Deutsche Bahn im Repertoire der Billigflieger. Und das sieht so aus: Ich wollte mir am Automaten in Berlin-Spandau eine Fahrkarte nach Hamburg kaufen. Der Preis (26,50 Euro mit Bahncard) wurde zunächst auch korrekt angezeigt. Kurz vor der Bezahlung, ich hatte die EC-Karte schon im Anschlag, zeigte der Bildschirm plötzlich 29 Euro an. Immerhin 2,50 Euro mehr als vorher!

Verwundert klickte ich auf dem Touchscreen zurück und musste einige Momente nach dem Grund für den plötzlichen Preissprung suchen: Im Menü kann man auswählen, ob man Bahn-Bonuspunkte sammeln möchte oder nicht. Obendrüber geht es um Reservierungen. Hier verbirgt sich der unscheinbare Satz: „1 Platz reserviert für Einfache Fahrt. Hinfahrt 2,50 €.“

Nun sind Sitzplatzreservierungen auf den meisten Strecken ja so ziemlich das Nutzloseste was es gibt. Die Strecke Berlin-Hamburg ist zum Beispiel fast nie ausgebucht. Ich habe bisher immer problemlos einen Platz bekommen. Es ist also einigermaßen dreist, dass die Bahn die kostenpflichtige Sitzplatzreservierung einfach automatisch mit dazu bucht.


Der einzige Hinweis auf die (kostenpflichtige) Reservierung auf dem Abschlussbildschirm. Dass 2,50 Euro aufgeschlagen wurden steht hier nirgends.

Und das geschieht noch dazu auf ziemlich intransparente Weise: Während man das Sammeln der Bahn-Bonuspunkte im gleichen Menü bequem mit einem Tastendruck aktivieren oder deaktivieren kann, muss man für das Löschen der Sitzplatzreservierung zunächst auf die dazugehörige Schaltfläche „ändern“ klicken und erhält erst dann in einem weiteren Menü die Option ohne Reservierung zu reisen. Wenn man in Eile ist oder sich mit Automaten nicht gut auskennt, übersieht man die ungewollte Reservierung schnell und zahlt am Ende drauf. Ähnlich geht es vermutlich vielen älteren Menschen, welche den höheren Preis dann vermutlich einfach hinnehmen. Keine schöne Sache.

Nicht einfacher wird die Geschichte allerdings dadurch, dass die Menüs in den DB-Automaten sich offenbar je nach Vorlaufzeit der Buchung und nach Wahl des Zuges anpassen und unterschiedlich aussehen: Mal ist die Reservierungs-Schaltfläche nicht automatisch angewählt, dann wieder erscheint ohne Zutun ein extra Bildschirm, in dem man direkt Abteil oder Großraumwagen, Fenster- oder Gangplatz auswählen kann. Wann welcher Bildschirm erscheint, weiß wohl nur die Bahn.

Wieso gibt es für das Reservieren eines Sitzplatzes im Automaten mindestens drei verschiedene Menüs? Wieso ist die Platzreservierung mal automatisch mit gebucht und mal (fairerweise) optional? Das Wirrwarr der unterschiedlichen Darstellungsformen in den Fahrkartenautomaten erweckt den Eindruck, dass die Bahn vielleicht einfach selbst den Überblick über ihre Reservierungen verloren hat. Der Schaffner würde sagen: „Leider konnten durch einen Systemfehler heute keine Reservierungen übertragen werden. Bitte setzen Sie sich einfach auf einen freien Platz.“

Klapperkonzert auf zwei Reifen

Kaum scheint die Sonne wieder, ist auch dieses Geräusch wieder da: Es klackert, rattert, rasselt, scheppert, rumpelt und kracht, dass es eine wahre Freude ist. Die Fahrradsaison ist eröffnet und das ist in Kreuzberg meist eine lautstarke Angelegenheit. Grund hierfür ist der Pflegezustand vieler Räder, der knapp oberhalb der Kategorie „noch fahrtüchtig“ rangiert. Also klappert das Rückblech, quietschen die Pedale, schleift die Kette bei jeder Fußbewegung.

Wer im bürgerlichen Charlottenburg oder im biederen Zehlendorf aufgewachsen ist, der kennt solcherlei Geräusche ja kaum. Fahrräder sind dort vor allem als rund laufende geräuscharme Fortbewegungsmittel bekannt. Allenfalls das leichte Sirren der Gangschaltung (18 Gänge plus) ist zu hören und vielleicht noch das leise Schnaufen des Radfahrers, wenn er sich die Steigung auf den Teufelsberg hinauf quält. Wo in Wilmersdorf eine jährliche Inspektion auf dem Programm steht, wird in Kreuzberg das Fahrrad genau einmal inspiziert – nämlich beim Kauf. Und so scheinen sich auch die Händler in der Umgebung weniger auf die Reparatur bestehender Bikes als auf den Verkauf von Gebrauchtfahrrädern spezialisiert zu haben.

Nicht nur dort wechseln Räder schnell ihren Besitzer: Wer seinen Drahtesel am Görlitzer Park abstellt, sollte besser nicht nur Rahmen und Vorderrad, sondern alle irgendwie abschraubbaren Teile des Rades mit einem Schloss sichern. Die Galerie an halbzerlegten Rädern vor dem Schwimmbad am Spreewaldplatz spricht hier Bände.


Hier muss die Fahrradmanufaktur wohl noch mal von vorne anfangen: Rad am Spreewaldplatz

Unvergessen auch der Tag, als ich schwerbepackt aus dem Lidl kam. „Hey, möchtest du Fahrrad kaufen?“, fragte mich ein Farbiger und wollte mir ein braunes Herrenrad andrehen. Für 30 oder 40 Euro hätte ich es haben können. Mit Transportkorb, aber ohne Schloss.

Es ist nicht nur die Saison der Fahrradfahrer, sondern auch der Fahrraddiebe. So mancher schützt sein Rad mittlerweile nach der „Kreuzberger Formel“. Das heißt: Preis des Schlosses = Fahrradwert mal zwei. Und jeder kennt irgendjemanden, dem ist trotzdem das Rad abhanden gekommen. Auftauchen tun die Bikes dann im Internet (u.a. Ebay Kleinanzeigen, Zweite Hand) oder auf Flohmärkten wie im Mauerpark. Wer sein geklautes Rad wieder haben möchte, dem wird hier ein guter Preis gemacht.

Und während das Stadtmagazin Zitty in seiner letzten Ausgabe die Vorzüge eines Fahrrades gegenüber einer Seifenkiste anpreist („in ihrer Nutzung weitaus eingeschränkter“), den „Schönheits-Vorsprung eines klapprigen Drahtesels vor einem nagelneuen Porsche 911“ erkannt zu haben glaubt  und auf den folgenden zehn (!) Seiten Fahrradfahrer vorstellt, die tatsächlich zu Uni oder zur Arbeit mit dem Rad fahren (wer hätte das gedacht, liebe Zitty!), gehe ich bisher noch zu Fuß. Mein Baumarktfahrrad mit drei Gängen steht nämlich noch im Keller. Es ist einfach nicht kreuzbergtauglich: Es klappert nämlich nicht. Kein Scheppern und Rasseln, wenn man über den Asphalt brettert. Irgendwie muss ich da noch mal ran; ein paar Schrauben lösen, das Öl von der Kette wischen und die Pedale zum Quietschen bringen. Dann kann der Fahrradsommer kommen.

Bye-bye Kontrolletti

Es ist ein stiller Abschied. „Verdeckte Kontrollen passen nicht zu dem offenen und ehrlichen Umgang mit unseren Kunden“, sagt BVG-Chefin Sigrid Nikutta im Tagesspiegel. Die Berliner Verkehrsbetriebe werden ab sofort nicht mehr auf getarnte Kontrolleure zurückgreifen.

Was wie eine harmlose Randnotiz in der neuen Freundlichkeitsoffensive der BVG wirkt, ist in Wahrheit ein tiefgreifender Wandel in Bus und Bahn. Es ist die Abschaffung des Kontrolletti, jenes letzten Desperado des Nahverkehrs.

„Opa, was ist eigentlich ein Kontrolletti?“, werden uns irgendwann unsere Enkel fragen, die auf ihrem Smartphone mal wieder zu lange in der Wikipedia rumgeblättert haben. Und wir werden sagen: „Also Kinder, das war so…“

Und dann werden wir ihnen von der ausgestorbenen Gattung der Kontrolletti erzählen: Unrasierte, bullige Kerle mit Wampe und verbrauchte Mittvierzigerinnen mit glasigem Blick. Getarnt in Jacken von Aldi und Kik streifen sie durch die U-Bahn-Waggons. Immer auf der Jagd nach abgelaufenen Fahrscheinen und nicht korrekt aufgeklebten Schülermarken. Ein Leben im Untergrund.

Für die Fahrgäste die große Spannung: Verkauft der zerlumpte Kerl da vorne gleich die Motz oder will er doch nur meinen Fahrschein sehen?

Der Umgangston bei der Kontrolle ist ruppig. „Kann ich mal ihr Ticket sehn?“, raunzt der Kontrolletti. Und die Berliner motzen zurück: Über die U-Bahn, die ständig verspätet sei. Über die hohen Fahrpreise. Und über die unfreundlichen Kontrollen. Am Ende zeigen fast alle ihre Monatskarte. Man nickt sich zu, es ist nur ein Spiel.

All das wird es in Zukunft nicht mehr geben. Keine Kopfprämie pro überführtem Schwarzfahrer, stattdessen schicke Uniformen. Die neuen Kontrolleure sagen vermutlich sogar „Bitte“ und „Danke“, wenn sie einen Fahrschein sehen wollen. Es tun sich Abgründe auf.

Doch die Trauer hilft nichts, die Tage des Kontrolletti sind endgültig gezählt. Ich werde sie vermissen. Bye-bye Kontrolletti.

Dein Bahnhof – Das Magazin aus Berlin

Ich persönlich habe ja kein besonders inniges Verhältnis zu meinem Bahnhof. Ich fahre hin, kaufe eine Fahrkarte und steige in den Zug. Ab und zu ärgere ich mich auch noch über eine Verspätung, aber das war es dann auch schon in Sachen Bahnhof. Woran ich beim Bahnhof nicht denke, ist das Thema Einkaufen.

Genau das möchte die Bahn gerne ändern: „Dein Bahnhof – Das Magazin der Berliner Bahnhöfe“ heißt ein kostenloses Kundenheft. Vom Cover haucht einen eine junge Frau verheißungsvoll an (Ein Hinweis auf die Temperaturen in den meisten Bahnhöfen?) und im Editorial heißt es: „Die Berliner Einkaufsbahnhöfe stellen hier einmal im Quartal die vielfältigen Angebote in und um den Bahnhof vor – wie z.B. spannende Veranstaltungen oder die attraktiven Angebote aus den Bereichen Gastronomie und Einzelhandel in den Bahnhöfen.“

Es geht also um‘s Verkaufen, die Fahrgäste sollen Geld ausgeben beim Warten auf den Zug. Und die Bahn hat sich einiges einfallen lassen, um ihre Berliner Bahnhöfe in der Vorweihnachtszeit zu wahren Shopping-Magneten zu machen. O-Ton Editorial: „In Ihren Berliner Einkaufsbahnhöfen ist auch im Winter eine Menge los: Dazu zählen Pianoklänge im Bahnhof Zoo und ein Weihnachtsbaum der ganz besonderen Art im Berliner Hauptbahnhof.“

Ist ja der Wahnsinn: Im Bahnhof Zoo tanzen Penner zu Klaviergeklimper vom Band im Takt und im Hauptbahnhof steht ein kitschig glitzernder Tannenbaum. Da ist schon wirklich eine Menge los. Muss ich mir glatt überlegen, ob ich so viel Erlebnis an einem Tag überhaupt verkraften kann.

Aber „Dein Bahnhof“ hat noch mehr Themen: So werden etwa verschiedene Bahnhofsbäcker vorgestellt. Die „verwöhnen“ ihre Kunden zurzeit mit „Baumkuchen oder Weihnachtsstollen“. Wobei es mit dem Verwöhnen nicht weit her ist, denn es handelt sich um die üblichen Aufbackstuben, die sich mittlerweile an jeder größeren Straßenkreuzung breit gemacht haben. Auf dem einen Foto sieht man sogar den Elektroofen im Hintergrund, mit dem die vorgeformten Teigrohlinge in Brötchen und Brot verwandelt werden.

Dennoch wird das Magazin nicht müde, auch hier die Vorzüge zu betonen: „BackWerk im Bahnhof Zoo bietet dem eiligen Kunden einen besonderen Service. Dort dürfen sich alle, ob Naschkatzen mit einem Faible für Süßes oder Freunde deftiger Backkunst, im Backshop selber bedienen.“ Was für ein Service: Statt Bedienung an der Theke muss ich mir die zuckrigen Mohnschnecken selbst auf’s Tablett legen und an die Kasse bringen.

Weiter geht es mit Berichten über die Bahnhofsapotheken („Bei Apotheker Michael Marquardt reicht der Service sogar bis zur Kosmetik-Beratung“), über Änderungsschneidereien und Uhrenläden („Dienstbare Geister“) und wertvollen Tipps für weihnachtliche Getränke („Ein guter Glühwein […] wird heiß getrunken“).

Auf Seite 22 erzählt die Rubrik „Flüchtige Begegnungen“ kuriose und witzige Geschichten aus den Berliner Bahnhöfen. Die Leser sind aufgefordert eigene Erlebnisse einzusenden. Und die verraten mehr über die Servicekultur bei der Deutschen Bahn, als dem Unternehmen eigentlich lieb sein kann.

So schreibt etwa Herr Hinze aus Berlin-Mitte: „Ich fuhr mit dem Nachtzug nach Freiburg. Leider alleine, da ein Freund kurzfristig abgesagt hatte. So hatte ich zwei Fahrkarten. Als der Schaffner kontrollierte, hatte eine junge Koreanerin Probleme. Sie hatte zwar ihre Tickets dabei, nicht aber die dazugehörige Visa-Card zur Bestätigung. Ich hörte dies, ging hin und fragte, ob es auch in Ordnung sei, wenn sie meine freie Karte in Anspruch nähme. Es war möglich. Die Mitfahrer bedankten sich und sagten: ‚Wir dachten, Hilfsbereitschaft gebe es nicht mehr.’“

Was lese ich als Kunde da raus: Die Bahn beharrt auf ihren engstirnigen Bestimmungen. Von Kulanz beim Zugbegleiter keine Spur. Die Situation löst sich nur dadurch auf, dass ein fremder Fahrgast doppelt bezahlt. Ungünstiger kann Eigen-PR nicht aussehen.

„Dein Bahnhof“ ist mutig, dass es solche Geschichten aus der Servicewüste frei heraus erzählt. Vielleicht liest bei der Bahn aber auch einfach niemand besonders aufmerksam das extern bei Axel Springer produzierte Magazin. Das wäre jetzt kein schönes Fazit, deshalb schreibe ich lieber noch eines.

Fazit: Dein Bahnhof versucht uns weihnachtliche Musik und einen Tannenbaum als großes Eventprogramm zu verkaufen, lobt die 08/15-Bahnhofsbäcker in den Service-Himmel und gibt uns Glühweintipps, die gar keine sind. Kurz, es macht das, was unzählige andere PR-Magazine auch machen. Eine willkommene Abwechslung ist da die Seite mit den Kundenberichten: Wirklich sympathisch werden uns Bahn und Bahnhöfe dadurch zwar nicht, aber immerhin hatten wir was zu lachen.

Dein Bahnhof – Magazin der Berliner Bahnhöfe hat 36 Seiten und liegt in den „Einkaufsbahnhöfen“ der Deutschen Bahn aus. Im November ist die dritte Ausgabe erschienen. Auf der Onlineseite gibt es auch ein Gästebuch (mit aktuell 11 Einträgen).

Verspätete Übergabe aus dem Ausland

Die Deutsche Bahn hat ja bekanntermaßen unzählige Ansagen für Verspätungen auf Lager. Könnte ich einen Tag in der Zugverspätungszentrale der Bahn verbringen, dann würde ich ziemlich sicher die ganzen Knöpfe mit den Ansagen durchprobieren. Und ganz bestimmt auch den mit meiner Lieblingsansage drücken:

„Wegen verspäteter Übergabe aus dem Ausland hat Eurocity 174 eine Verspätung von 90 Minuten.“

Man könnte jetzt einwenden, dass an dieser Ansage nichts besonderes ist. Sie wird tagtäglich dutzende Male abgespielt und lindert doch kaum den Zorn der Reisenden. Aber schauen wir uns die scheinbar schnöde Ansage einmal genauer an.

Kernelement ist zweifelsohne die Übergabe. Trotz Europäischer Union und Schengenraum muss ein Zug an der Grenze ganz offenkundig an die Kollegen vom Nachbarland übergeben werden. Da tippeln also Schaffner bei Eiseskälte am Grenzübergang unruhig von einem Bein aufs andere, ballen ihre Fäuste in den Schaffnermanteltaschen und blicken ungeduldig den Schienenstrang entlang. Kommt er jetzt endlich?

So eine Zugübergabe ist eine gemeinhin unterschätzte und dabei doch hochkomplexe Angelegenheit. Was muss da nicht alles überprüft werden: Fährt der Zug überhaupt auf dem richtigen Gleis (blöd, wenn man es erst hinterher in Buxtehude merkt)? Sind noch alle Waggons da (gerne kommt ja der Speisewagen abhanden, aber das ist eine andere Ansage)? Wie steht es um die Laugenstangenvorräte des mobilen Bretzelverkäufers? Bis alles durchgezählt und penibel im Übergabeprotokoll vermerkt ist, kann schon eine kleine Weile vergehen. Und schon ist sie da: Die Verspätung aufgrund verspäteter Übergabe aus dem Ausland.

Von Dresden Hauptbahnhof bis Berlin-Südkreuz heißt es dann: „Wegen verspäteter Übergabe aus dem Ausland…“

Charmant ist in jedem Fall die Diffusität der Ansage: Sie sagt nichts über den eigentlichen Grund der Verspätung aus. Am Grenzübergang verquatscht? Bei den Laugenstangen dreimal verzählt? Ach iwo, das ist doch kein ansagetauglicher Verspätungsgrund!

Stattdessen wälzt die Bahn die Schuld ganz geschickt auf das nicht näher definierte „Ausland“ ab. Das ist einfach, denn das „Ausland“ gilt gemeinhin als ziemlich unberechenbares Land. Vom Ausland kann man weder präzise Pünktlichkeit noch pünktliche Präzision erwarten.

Ganz bewusst spricht die Bahn nicht von einer „verspäteten Übergabe aus dem Nachbarland“. Das klingt nämlich weder besonders weit weg, noch sonderlich unberechenbar.

Zugleich scheut die Bahn aber auch die direkte Konfrontation. „Der Tscheche ist schuld“, könnte der Schaffner ja auch ansagen. Das ist aber zum einen politisch nicht ganz korrekt und zum anderen weiß jeder Zugführer von Flensburg bis Garmisch-Partenkirchen, dass es die Kollegen im Ausland auch nicht anders machen. Kommt ein deutscher Zug zu spät nach Prag, dann ist auch dort „das Ausland“ schuld.

Was lernen wir daraus? Eine Zugübergabe ist komplexer als wir gedacht haben (aha!) und auf das Ausland ist im Falle einer Verspätung in jedem Fall Verlass (na immerhin!).

Schneeball im M29

45 Haltestellen, 65 Minuten Fahrtzeit und ein breites Kaleidoskop des öffentlichen Lebens – das sind die Eckdaten einer Tour mit dem M29. Die Linie durchquert die Hauptstadt von West nach Ost – vom Rande des Grunewalds geht es über den Ku’damm, vorbei am Potsdamer Platz nach Kreuzberg und schließlich zum Neuköllner Hermannplatz (siehe Linienplan). Will man etwas über Migranten und ihre Probleme in Berlin erfahren, dann sollte man unbedingt mit dem Bus M29 fahren. Ein Vorteil von Bussen gegenüber U-Bahnen ist ja, dass man jedes Telefonat unweigerlich komplett mithören kann. So wie das Folgende.

Kurz vor dem Lehrter Bahnhof. Ein junge Frau telefoniert mit einer Freundin: „Ey hast du schon deine Kontakte? Man, das ist total wichtig, dass du die Kontakte hast.“ Nun ist es ja in Zeiten von Facebook vielen Leuten richtig wichtig, optimal mit ihrer Umwelt vernetzt zu sein. Doch hier ging es ganz offenbar um etwas anderes. So wollte die Anruferin ihre Freundin am anderen Ende der Leitung davon überzeugen, bei einem todsicheren Deal mitzumachen: „Du zahlst 100 Euro ein und in neun Tagen kriegst du 700 Euro zurück. Du musst dich nur neun Tage um die Sache kümmern.“, erklärte sie. In den Kreis dürften aber nur „110-prozentig vertrauensvolle Leute aufgenommen werden“. Wir schauten uns bestätigend an.

Nur einen Haken gebe es: „Du musst zwei Kontakte haben, die auch 100 Euro einzahlen.“ Sonst kriege man weniger Geld und es dauere auch länger. Immerhin schien der Erfolg der Sache Recht zu geben: „Guck mal! Mahmoud hat Sana und Yasar reingebracht. Yasar hat Hasan und Gülcan…“ Es folgte eine längere Aufzählung von Namen, familiären Zugehörigkeiten und genauer Angabe, wer wann wen „reingebracht“, also in den Kreis aufgenommen hatte. Als die Freundin trotz des anhaltenden Redeschwalls offenkundig nicht so recht überzeugt schien, steigerte sich die Anruferin: „Ich hab so ein, zwei, drei Leute, aber die haben halt alle nur so 60 Euro und so. Ich denk gar nicht dran denen jetzt Geld zu geben! Meine Mutter will auch rein, aber sie weiß halt noch nicht, wer ihr zweiter Kontakt ist. Verstehst du, ich suche erst mal nur Leute, die auch zwei Kontakte haben.“

Der M29 biegt in die Oranienstraße ein und noch immer scheint an der Telefonfront kein Durchbruch in Sicht. „Das ist ein Schneeball-System, das klappt 200-prozentig! Ey, wenn es nicht läuft, zur Not haben wir noch Hamoudi. Der kann nicht abhauen mit der Kohle. Krass, das Mindeste ist doch, dass Hamoudi dir dann die 100 Euro zurückgibt.“ Kurze Pause. „Guck mal! Als ich letztens da war, hat wieder ein Mädchen vor meinen Augen 700 Euro bekommen. Bar auf die Hand!“ Die Stimme der Anruferin hatte sich ins Schrille gesteigert. „Richtig viele Leute sind da schon dabei. Shit man, halb Kreuzberg ist da drin!“

Der M29 erreichte den Görlitzer Bahnhof. Den Hörer immer noch ans Ohr gepresst, stieg die junge, bald schon um 600 Euro reichere Frau aus und verschwand in die Nacht. Schade, denn gerade waren wir bereit gewesen, selbst einzusteigen. Wir hätten 100 Euro gegen 700 Euro getauscht und uns einen Ast gefreut. Nur eine Frage hätten wir vorher noch gehabt: Warum macht der geheime Zirkel eigentlich so ein Verlustgeschäft? 100 Euro einnehmen und dafür 700 Euro verschenken, so schnell haben nicht mal die Lehman Brothers ihr Geld verbrannt! Vielleicht treffen wir das Mädchen bei der nächsten Fahrt mit dem M29er wieder. Dann fragen wir nach, versprochen.