Schneeball im M29

45 Haltestellen, 65 Minuten Fahrtzeit und ein breites Kaleidoskop des öffentlichen Lebens – das sind die Eckdaten einer Tour mit dem M29. Die Linie durchquert die Hauptstadt von West nach Ost – vom Rande des Grunewalds geht es über den Ku’damm, vorbei am Potsdamer Platz nach Kreuzberg und schließlich zum Neuköllner Hermannplatz (siehe Linienplan). Will man etwas über Migranten und ihre Probleme in Berlin erfahren, dann sollte man unbedingt mit dem Bus M29 fahren. Ein Vorteil von Bussen gegenüber U-Bahnen ist ja, dass man jedes Telefonat unweigerlich komplett mithören kann. So wie das Folgende.

Kurz vor dem Lehrter Bahnhof. Ein junge Frau telefoniert mit einer Freundin: „Ey hast du schon deine Kontakte? Man, das ist total wichtig, dass du die Kontakte hast.“ Nun ist es ja in Zeiten von Facebook vielen Leuten richtig wichtig, optimal mit ihrer Umwelt vernetzt zu sein. Doch hier ging es ganz offenbar um etwas anderes. So wollte die Anruferin ihre Freundin am anderen Ende der Leitung davon überzeugen, bei einem todsicheren Deal mitzumachen: „Du zahlst 100 Euro ein und in neun Tagen kriegst du 700 Euro zurück. Du musst dich nur neun Tage um die Sache kümmern.“, erklärte sie. In den Kreis dürften aber nur „110-prozentig vertrauensvolle Leute aufgenommen werden“. Wir schauten uns bestätigend an.

Nur einen Haken gebe es: „Du musst zwei Kontakte haben, die auch 100 Euro einzahlen.“ Sonst kriege man weniger Geld und es dauere auch länger. Immerhin schien der Erfolg der Sache Recht zu geben: „Guck mal! Mahmoud hat Sana und Yasar reingebracht. Yasar hat Hasan und Gülcan…“ Es folgte eine längere Aufzählung von Namen, familiären Zugehörigkeiten und genauer Angabe, wer wann wen „reingebracht“, also in den Kreis aufgenommen hatte. Als die Freundin trotz des anhaltenden Redeschwalls offenkundig nicht so recht überzeugt schien, steigerte sich die Anruferin: „Ich hab so ein, zwei, drei Leute, aber die haben halt alle nur so 60 Euro und so. Ich denk gar nicht dran denen jetzt Geld zu geben! Meine Mutter will auch rein, aber sie weiß halt noch nicht, wer ihr zweiter Kontakt ist. Verstehst du, ich suche erst mal nur Leute, die auch zwei Kontakte haben.“

Der M29 biegt in die Oranienstraße ein und noch immer scheint an der Telefonfront kein Durchbruch in Sicht. „Das ist ein Schneeball-System, das klappt 200-prozentig! Ey, wenn es nicht läuft, zur Not haben wir noch Hamoudi. Der kann nicht abhauen mit der Kohle. Krass, das Mindeste ist doch, dass Hamoudi dir dann die 100 Euro zurückgibt.“ Kurze Pause. „Guck mal! Als ich letztens da war, hat wieder ein Mädchen vor meinen Augen 700 Euro bekommen. Bar auf die Hand!“ Die Stimme der Anruferin hatte sich ins Schrille gesteigert. „Richtig viele Leute sind da schon dabei. Shit man, halb Kreuzberg ist da drin!“

Der M29 erreichte den Görlitzer Bahnhof. Den Hörer immer noch ans Ohr gepresst, stieg die junge, bald schon um 600 Euro reichere Frau aus und verschwand in die Nacht. Schade, denn gerade waren wir bereit gewesen, selbst einzusteigen. Wir hätten 100 Euro gegen 700 Euro getauscht und uns einen Ast gefreut. Nur eine Frage hätten wir vorher noch gehabt: Warum macht der geheime Zirkel eigentlich so ein Verlustgeschäft? 100 Euro einnehmen und dafür 700 Euro verschenken, so schnell haben nicht mal die Lehman Brothers ihr Geld verbrannt! Vielleicht treffen wir das Mädchen bei der nächsten Fahrt mit dem M29er wieder. Dann fragen wir nach, versprochen.

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