Happy Birthday, Blogonade!

Beinahe hätte ich einen wichtigen Geburtstag vergessen: Mein Blog wird heute ein Jahr alt! Am 3. Januar 2010 habe ich Blogonade ins Leben gerufen, um endlich all die Geschichten zu erzählen, die mir Tag für Tag über den Weg laufen. Und es kommt es mir vor, als wäre es gestern gewesen. Der erste Artikel in einem leeren Blog ist bekanntlich der Schwerste: Und so analysierte ich vor einem Jahr – nicht sonderlich originell – die verschiedenen Einträge zum Thema „Blogonade“ bei Google. Sieben Suchergebnisse gab es damals, heute dürften es einige mehr sein. Es folgten Artikel über nadelnde Weihnachtsbäume und geschlossene Flipper-Salons, über Endhaltestellen und skurrile Hundemagazine. Text für Text, Geschichte für Geschichte hat sich Blogonade so inzwischen zu einem richtigen Berlin-Blog entwickelt.

Ein Highlight in diesem ersten Jahr Blogonade war sicherlich mein erster gewonnener Blogslam. Die Geschichte „Die 10 dämlichsten Verbrechen bei TKKG“ entwickelte sich in der Folge zum Publikumsliebling meiner Seite. Aber auch andere Artikel kamen gut an: So etwa das Protokoll einer Busfahrt mit dem M29, in dem bekanntermaßen jeden Tag die heißesten Deals der Stadt abgewickelt werden, oder mein Bericht über das Minigolf spielen bei Schwarzlicht. Doch nicht immer macht sich das zeitintensive Schreiben an Texten auch bezahlt: So stieß die ausführliche Analyse einer doch recht merkwürdigen Mobbing-Kampagne der Malteser rückblickend auf keine nennenswerte Resonanz.

Auch in 2011 geht es mit der Blogonade munter weiter. So will ich insbesondere meinen Kiez in Kreuzberg weiter erkunden, meine Serie mit den Endhaltestellen fortführen und verstärkt mit dem Medium Video experimentieren.

Aber jetzt erst mal hoch die Tasssen!
Euer Lukas

Kunst und Crime: Marcel van Eeden

Sein Zeichenstil ist hart und kontrastreich, seine Geschichten spielen mit bekannten Versatzstücken des Film Noir. Der Niederländer Marcel van Eeden kombiniert in seinen Werken Kunst und Crime. Mehr als 500 Zeichnungen sind jetzt im Haus am Waldsee zu sehen. Das Berlin-Blog hat einen Blick riskiert.

Elf Serien bilden das Herzstück der Ausstellung „Schritte ins Reich der Kunst“. Wie Filmschnipsel hängen die kleinformatigen Zeichnungen an der Wand. Von links nach rechts, zuweilen auch kreuz und quer, verlaufen die Erzählstränge durch den Raum.

So lernen wir in einer Serie etwa den mysteriösen K.M. Wiegand kennen. Gezeichnete Buchcover, Zeitungsausschnitte und Dokumente lassen ihn wahlweise als Geologen oder Gangsterboss, als Admiral oder Mörder erscheinen. Marcel van Eeden spielt mit dem Betrachter. Er macht es ihm unmöglich, sich ein abschließendes Urteil über die Person Wiegand zu bilden.

Rätselhaft bleiben auch die Ereignisse in der wahrscheinlich stärksten Serie der Ausstellung: „Zurich Trial, Part 1: Witness for the Prosecution“. Eine junge Frau namens Celia erzählt in einer Rückblende die Geschichte des (mutmaßlichen) Mordes am Kunstsammler Matheus Boryna. Der Künstler Oswald Sollmann soll ihn erschossen haben, womöglich um an eine Kiste mit verschollenen Grünewaldzeichnungen zu gelangen. Doch die genauen Umstände bleiben unklar. Sollmann kann nicht überführt werden. Ist er wirklich der Täter? Oder hat sich Boryna doch selbst das Leben genommen? Marcel van Eeden zelebriert diese Rätselhaftigkeit. Je mehr Nebenstränge man sich anschaut, desto widersprüchlicher wird das Bild. Nichts ist sicher, alles bleibt vage.

Bei aller Unklarheit im Erzählgegenstand verfolgt Marcel van Eeden in seinem Schaffen ein klares Konzept: So benutzt er als Vorlage für seine Kohlezeichnungen ausschließlich Ausschnitte aus Zeitungen oder Magazinen, die älter sind als er selbst. Er sampelt die Bildinhalte und fügt sie zu neuen Werken zusammen. Eine Zeit lang soll er jede Nacht ein Bild gemalt haben. Viele dieser Skizzen sind online auf seiner Webseite zu sehen, die Stimmungsvollsten stellt er hin und wieder zu Serien zusammen.

Häufig ergänzt Marcel van Eeden seine Zeichnungen um Unter- oder Zwischentitel. Text und Bild bilden dabei jedoch keine Einheit, sie erscheinen bisweilen sogar konträr. Zum Bild einer durchgeladenen Maschinenpistole textet van Eeden etwa „In his free hand he would carry a large bag of chocolates“. Nicht zuletzt diese Komik macht das Werk des Niederländers so reizvoll.

Marcel van Eeden – Schritte ins Reich der Kunst ist noch bis 30. Januar im Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, in Berlin-Zehlendorf zu sehen. Eintritt: 5 Euro, ermäßigt 3 Euro.

Douglas gibt mir die Kugel

„Und noch eine kleine Aufmerksamkeit für Sie. Frohe Weihnachten!“, ruft mir der Verkäufer zu. Und eh ich es mir versehe, halte ich die Papiertüte von Douglas in der Hand. Kauftransaktion abgeschlossen. In der Tüte: Das Weihnachtsgeschenk für meine Mutter und die „kleine Aufmerksamkeit“. Sie besteht aus einem viereckigen Karton mit dem Aufdruck „Collectors Edition 2010“ (die kleine Aufmerksamkeit, nicht meine Mutter). Durch den transparenten Kunststoff sieht man eine silberne Weihnachtskugel schimmern. Auf die Oberfläche der Kugel hat jemand eine Frau gemalt, deren Unterkörper aus Tannenzweigen besteht. Hinter der Waldfrau befinden sich noch ein goldener Stern und ein verwaschenes blaues Etwas, das so aussieht als hätte jemand seinen Pinsel nicht richtig ausgewaschen. Über dieses Meisterwerk moderner Christbaumkugelmalerei hat der Künstler mit krakeliger Schrift seine Signatur gesetzt.

Was soll ich damit machen? Collectors Edition hin oder her, an den Baum hänge ich mir diese Kugel ganz sicher nicht. Erstens ist sie verdammt hässlich. Zweitens, selbst wenn sie nicht hässlich wäre, würden mir noch die anderen Stücke der diesjährigen Kollektion fehlen. Nur eine Kugel von Douglas und zwanzig andere in Rot und Blau, das sieht nun wirklich nicht aus.

Mein erster Gedanke war: Am besten schnell weiterverschenken. Spontan fiel mir niemand ein, der sich über eine einzelne Silberkugel mit liebloser Bemalung freuen würde. Meine Mutter jedenfalls schon mal nicht. Mein Bruder? Der hat nicht mal einen Baum. Der Motzverkäufer in der U-Bahn? Ich bezweifelte, dass er sich über die Douglas-Kugel freuen würde.

Natürlich könnte ich die Kugel einfach zum Verkäufer zurückbringen. Sie auf den Tisch legen und sagen: So nicht. Aber damit habe ich schlechte Erfahrungen gemacht. Einer guten Freundin von mir wollten sie im Penny mal alte Weihnachtsschokolade andrehen. Als sie ablehnte, wurde sie von den Kassiererinnen als dekadent und überheblich beschimpft. Das wollte ich lieber nicht riskieren.

„Stell sie doch auf Ebay rein“, sagte mein Bruder. Auf der Auktionsplattform würde schließlich so ziemlich jeder Mist verkauft. Ich recherchierte. Auch ein anderer Douglas-Kunde war schon auf die Idee mit dem Versteigern gekommen. In gekonntem Marktschreier-Jargon und mit originellen Schreibfehlern hob er die Vorzüge der Kugel hervor:

„Hier biete ich eine unglaubliche Gelegenheit : Die Douglas Collektours 2010 Kugel , ein muß für jeden Sammler geschmackvoller Präziosen und die Möglichkeit Geschmack zu beweisen . Abgesehen vom guten Gefühl ein solch wertigen Gegenstand sein Eigen zu nennen , haben sie die reale Chance einer extremen Wertentwicklung in den nächsten 500 Jahren. Diesen Anforderungen geschuldet werde ich meine ganze Kraft in eine bombensichere Verpackung legen damit die Kugel absolut sicher und unversehrt bei ihnen ankommt.“

Das Startgebot lag bei einem Euro. Obwohl die Auktion schon einige Zeit lief, hatte sich noch niemand gefunden, der das edle Sammlerstück erwerben wollte. Ebay schien nicht der richtige Ort für diese Art von Nippes zu sein.

Natürlich hätte ich die Kugel einfach wegwerfen können. Aber was für eine ungemeine Verschwendung wäre es, wenn geschätzte zwanzig Millionen Kunden von Douglas zur Weihnachtszeit eine solche Kugel geschenkt bekommen und sie dann umgehend entsorgen? Ein Präsent produziert für den Müll. Das klingt nicht nach einem Happy End.

Als ich mir all diese Gedanken gemacht hatte (der Laden hatte inzwischen geschlossen), fiel mein Blick noch einmal auf die Verpackung der Kugel. Ganz unten stand in kleiner goldener Schrift ein Satz auf dem Karton: „Die magische Wunschkugel“

Ich habe mir die Kugel dann schwupp-di-wupp einfach weggewünscht. Es hat funktioniert! Das Ding ist einfach spurlos verschwunden! Kugellos stand ich auf dem Kudamm. An Weihnachten passieren halt manchmal doch noch Wunder.

Dein Bahnhof – Das Magazin aus Berlin

Ich persönlich habe ja kein besonders inniges Verhältnis zu meinem Bahnhof. Ich fahre hin, kaufe eine Fahrkarte und steige in den Zug. Ab und zu ärgere ich mich auch noch über eine Verspätung, aber das war es dann auch schon in Sachen Bahnhof. Woran ich beim Bahnhof nicht denke, ist das Thema Einkaufen.

Genau das möchte die Bahn gerne ändern: „Dein Bahnhof – Das Magazin der Berliner Bahnhöfe“ heißt ein kostenloses Kundenheft. Vom Cover haucht einen eine junge Frau verheißungsvoll an (Ein Hinweis auf die Temperaturen in den meisten Bahnhöfen?) und im Editorial heißt es: „Die Berliner Einkaufsbahnhöfe stellen hier einmal im Quartal die vielfältigen Angebote in und um den Bahnhof vor – wie z.B. spannende Veranstaltungen oder die attraktiven Angebote aus den Bereichen Gastronomie und Einzelhandel in den Bahnhöfen.“

Es geht also um‘s Verkaufen, die Fahrgäste sollen Geld ausgeben beim Warten auf den Zug. Und die Bahn hat sich einiges einfallen lassen, um ihre Berliner Bahnhöfe in der Vorweihnachtszeit zu wahren Shopping-Magneten zu machen. O-Ton Editorial: „In Ihren Berliner Einkaufsbahnhöfen ist auch im Winter eine Menge los: Dazu zählen Pianoklänge im Bahnhof Zoo und ein Weihnachtsbaum der ganz besonderen Art im Berliner Hauptbahnhof.“

Ist ja der Wahnsinn: Im Bahnhof Zoo tanzen Penner zu Klaviergeklimper vom Band im Takt und im Hauptbahnhof steht ein kitschig glitzernder Tannenbaum. Da ist schon wirklich eine Menge los. Muss ich mir glatt überlegen, ob ich so viel Erlebnis an einem Tag überhaupt verkraften kann.

Aber „Dein Bahnhof“ hat noch mehr Themen: So werden etwa verschiedene Bahnhofsbäcker vorgestellt. Die „verwöhnen“ ihre Kunden zurzeit mit „Baumkuchen oder Weihnachtsstollen“. Wobei es mit dem Verwöhnen nicht weit her ist, denn es handelt sich um die üblichen Aufbackstuben, die sich mittlerweile an jeder größeren Straßenkreuzung breit gemacht haben. Auf dem einen Foto sieht man sogar den Elektroofen im Hintergrund, mit dem die vorgeformten Teigrohlinge in Brötchen und Brot verwandelt werden.

Dennoch wird das Magazin nicht müde, auch hier die Vorzüge zu betonen: „BackWerk im Bahnhof Zoo bietet dem eiligen Kunden einen besonderen Service. Dort dürfen sich alle, ob Naschkatzen mit einem Faible für Süßes oder Freunde deftiger Backkunst, im Backshop selber bedienen.“ Was für ein Service: Statt Bedienung an der Theke muss ich mir die zuckrigen Mohnschnecken selbst auf’s Tablett legen und an die Kasse bringen.

Weiter geht es mit Berichten über die Bahnhofsapotheken („Bei Apotheker Michael Marquardt reicht der Service sogar bis zur Kosmetik-Beratung“), über Änderungsschneidereien und Uhrenläden („Dienstbare Geister“) und wertvollen Tipps für weihnachtliche Getränke („Ein guter Glühwein […] wird heiß getrunken“).

Auf Seite 22 erzählt die Rubrik „Flüchtige Begegnungen“ kuriose und witzige Geschichten aus den Berliner Bahnhöfen. Die Leser sind aufgefordert eigene Erlebnisse einzusenden. Und die verraten mehr über die Servicekultur bei der Deutschen Bahn, als dem Unternehmen eigentlich lieb sein kann.

So schreibt etwa Herr Hinze aus Berlin-Mitte: „Ich fuhr mit dem Nachtzug nach Freiburg. Leider alleine, da ein Freund kurzfristig abgesagt hatte. So hatte ich zwei Fahrkarten. Als der Schaffner kontrollierte, hatte eine junge Koreanerin Probleme. Sie hatte zwar ihre Tickets dabei, nicht aber die dazugehörige Visa-Card zur Bestätigung. Ich hörte dies, ging hin und fragte, ob es auch in Ordnung sei, wenn sie meine freie Karte in Anspruch nähme. Es war möglich. Die Mitfahrer bedankten sich und sagten: ‚Wir dachten, Hilfsbereitschaft gebe es nicht mehr.’“

Was lese ich als Kunde da raus: Die Bahn beharrt auf ihren engstirnigen Bestimmungen. Von Kulanz beim Zugbegleiter keine Spur. Die Situation löst sich nur dadurch auf, dass ein fremder Fahrgast doppelt bezahlt. Ungünstiger kann Eigen-PR nicht aussehen.

„Dein Bahnhof“ ist mutig, dass es solche Geschichten aus der Servicewüste frei heraus erzählt. Vielleicht liest bei der Bahn aber auch einfach niemand besonders aufmerksam das extern bei Axel Springer produzierte Magazin. Das wäre jetzt kein schönes Fazit, deshalb schreibe ich lieber noch eines.

Fazit: Dein Bahnhof versucht uns weihnachtliche Musik und einen Tannenbaum als großes Eventprogramm zu verkaufen, lobt die 08/15-Bahnhofsbäcker in den Service-Himmel und gibt uns Glühweintipps, die gar keine sind. Kurz, es macht das, was unzählige andere PR-Magazine auch machen. Eine willkommene Abwechslung ist da die Seite mit den Kundenberichten: Wirklich sympathisch werden uns Bahn und Bahnhöfe dadurch zwar nicht, aber immerhin hatten wir was zu lachen.

Dein Bahnhof – Magazin der Berliner Bahnhöfe hat 36 Seiten und liegt in den „Einkaufsbahnhöfen“ der Deutschen Bahn aus. Im November ist die dritte Ausgabe erschienen. Auf der Onlineseite gibt es auch ein Gästebuch (mit aktuell 11 Einträgen).

Verspätete Übergabe aus dem Ausland

Die Deutsche Bahn hat ja bekanntermaßen unzählige Ansagen für Verspätungen auf Lager. Könnte ich einen Tag in der Zugverspätungszentrale der Bahn verbringen, dann würde ich ziemlich sicher die ganzen Knöpfe mit den Ansagen durchprobieren. Und ganz bestimmt auch den mit meiner Lieblingsansage drücken:

„Wegen verspäteter Übergabe aus dem Ausland hat Eurocity 174 eine Verspätung von 90 Minuten.“

Man könnte jetzt einwenden, dass an dieser Ansage nichts besonderes ist. Sie wird tagtäglich dutzende Male abgespielt und lindert doch kaum den Zorn der Reisenden. Aber schauen wir uns die scheinbar schnöde Ansage einmal genauer an.

Kernelement ist zweifelsohne die Übergabe. Trotz Europäischer Union und Schengenraum muss ein Zug an der Grenze ganz offenkundig an die Kollegen vom Nachbarland übergeben werden. Da tippeln also Schaffner bei Eiseskälte am Grenzübergang unruhig von einem Bein aufs andere, ballen ihre Fäuste in den Schaffnermanteltaschen und blicken ungeduldig den Schienenstrang entlang. Kommt er jetzt endlich?

So eine Zugübergabe ist eine gemeinhin unterschätzte und dabei doch hochkomplexe Angelegenheit. Was muss da nicht alles überprüft werden: Fährt der Zug überhaupt auf dem richtigen Gleis (blöd, wenn man es erst hinterher in Buxtehude merkt)? Sind noch alle Waggons da (gerne kommt ja der Speisewagen abhanden, aber das ist eine andere Ansage)? Wie steht es um die Laugenstangenvorräte des mobilen Bretzelverkäufers? Bis alles durchgezählt und penibel im Übergabeprotokoll vermerkt ist, kann schon eine kleine Weile vergehen. Und schon ist sie da: Die Verspätung aufgrund verspäteter Übergabe aus dem Ausland.

Von Dresden Hauptbahnhof bis Berlin-Südkreuz heißt es dann: „Wegen verspäteter Übergabe aus dem Ausland…“

Charmant ist in jedem Fall die Diffusität der Ansage: Sie sagt nichts über den eigentlichen Grund der Verspätung aus. Am Grenzübergang verquatscht? Bei den Laugenstangen dreimal verzählt? Ach iwo, das ist doch kein ansagetauglicher Verspätungsgrund!

Stattdessen wälzt die Bahn die Schuld ganz geschickt auf das nicht näher definierte „Ausland“ ab. Das ist einfach, denn das „Ausland“ gilt gemeinhin als ziemlich unberechenbares Land. Vom Ausland kann man weder präzise Pünktlichkeit noch pünktliche Präzision erwarten.

Ganz bewusst spricht die Bahn nicht von einer „verspäteten Übergabe aus dem Nachbarland“. Das klingt nämlich weder besonders weit weg, noch sonderlich unberechenbar.

Zugleich scheut die Bahn aber auch die direkte Konfrontation. „Der Tscheche ist schuld“, könnte der Schaffner ja auch ansagen. Das ist aber zum einen politisch nicht ganz korrekt und zum anderen weiß jeder Zugführer von Flensburg bis Garmisch-Partenkirchen, dass es die Kollegen im Ausland auch nicht anders machen. Kommt ein deutscher Zug zu spät nach Prag, dann ist auch dort „das Ausland“ schuld.

Was lernen wir daraus? Eine Zugübergabe ist komplexer als wir gedacht haben (aha!) und auf das Ausland ist im Falle einer Verspätung in jedem Fall Verlass (na immerhin!).

Ein klarer Schnitt


Der Chirurgie-Simulator 2011: Nachzeichnen…

Früher war die Welt der PC-Simulationen noch übersichtlich: Es gab Rennspiele, Flugsimulatoren und Städtebauspiele á la Sim City. Betritt man heute die Spieleabteilung eines mittelgroßen Technikmarktes, wird man förmlich mit Titeln aus dem Simulationsbereich erschlagen.

Das Gesundheitswesen ist eine der wenigen Branchen, die vom Simulationswahn bisher verschont geblieben ist. Doch mit der Ruhe in Krankenhaus und Wartezimmer ist es jetzt vorbei: Wer schon immer einmal Arzt sein wollte, der kann sich im Chirurgie-Simulator 2011 an acht verschiedenen Operationen probieren. Heute vielleicht mal einen Blinddarm entfernen, anschließend einen Leistenbruch behandeln und zum Abschluss noch mal so eine richtig schöne Unterschenkelfraktur? Der Chirurgie-Simulator verspricht „realistische OP-Bedingungen“ und „viele verschiedene Werkzeuge wie Appendixquetsche, Skalpell, Kompresse“. Die „spannenden Missionen“ des Spiels seien nur „mit kühlem Kopf und ruhiger Hand“ zu meistern.


…und ausmalen sind die Hauptaufgaben des Spiels.

In der Praxis gestaltet sich das allerdings eher dröge: So zeichnet man mit dem virtuellen Skalpell Linien nach oder sprüht mit der Desinfizierdose große Flächen rund um den Bauchnabel eines Patienten an. Das Ganze erinnert irgendwie an das Malprogramm Paint.

Dieses OP-Video auf YouTube zeigt in Echtzeit, wie im Spiel ein Blinddarm operiert wird. Rasieren, Desinfizieren, Aufschneiden. Linien nachzeichnen und Flächen ausmalen. Zwischendurch wirds auch mal gepflegt eklig. Dazu läuft, wie in jedem guten echten Operationssaal auch, die ganze Zeit klimpernde Fahrstuhlmusik.

Um es kurz zu machen, der Chirurgie-Simulator ist genauso unrealistisch, langweilig und lieblos gestaltet wie seine Kollegen im Technikmarkt. Was haben wir dort nicht schon alles gesehen: Da hätten wir Bus-Simulator, Kran-Simulator, Gabelstaplersimulator, Landwirtschafts-Simulator, Feuerwehr-Simulator, Notarzt-Simulator, Müllabfuhr-Simulator, Lieferwagen-Simulator, Abschleppwagen-Simulator, Tankwagen-Simulator, Holzfäller-Simulator oder Pistenraupen-Simulator. Und das ist nur eine Auswahl.


Schöne bunte Arbeitswelt: In den Spielen dominiert allerdings meist eher Steinzeit-Grafik.

Simuliert wird, was sich verkauft. Und die Spiele laufen anscheinend richtig gut. So sind die Online-Foren, etwa des Landwirtschafts-Simulators, rege besucht. Auf der Facebook-Fanseite wird demnächst der 22.000ste Fan begrüßt. Da stört es kaum, dass die Bewertungen in PC-Zeitschriften und auf Amazon regelmäßig unterirdisch sind und jedes Gameplay-Video auf YouTube eigentlich eine Warnung ist: Diese Spiele bitte nicht kaufen!

Warum also wollen Menschen in ihrem Feierabend mit dem Müllauto durch Polygon-Städte gondeln und dutzende Abfalltonnen einsammeln? Wo liegt der Reiz, mit einem Mähdrescher übers Feld zu fahren und Weizen zu ernten?

Vielleicht ist es das Bedürfnis nach Entspannung. Wo in Ego-Shootern scharf geschossen wird und im Echtzeitstrategie-Spiel die Panzer rollen, umgibt die Spielwelt der Simulationen eine unaufgeregte Ruhe. Die gezeigte Welt ist gewaltfrei und – sieht man von ein paar nicht abgeholten Mülltonnen und ein paar ungemähten Feldern einmal ab – praktisch ereignislos.

„Spiel ist etwas Heiteres. Es soll Freude machen!“, heißt es schon in Loriots berühmtem Skat-Sketch. Wo aber nichts passiert und dieses Nichts auch noch so unschön aussieht, da ist der Reiz des Spielens dahin. Dann lieber noch eine Runde Sim City.